roeren inside mit Dafne Joel, Hochschulratsmitglied der RWU und Prokuristin in der Luftfahrtbranche

Veröffentlicht am

roeren inside 02/2025

Wir freuen uns, Ihnen hiermit die zweite Ausgabe unseres in diesem Jahr gestarteten Interviewformats roeren inside zu präsentieren.

Mit roeren inside geben wir Ihnen Einblick in die Themenbereiche, die uns in unseren Projekten bewegen. Damit möchten wir zugleich eine Plattform für Reflexion und den gemeinsamen Diskurs über aktuelle und zukunftsweisende Fragestellungen schaffen. Gemeinsam mit führenden Köpfen aus Wirtschaft und Wissenschaft beleuchten wir dafür zentrale Aspekte aus den Kompetenzbereichen, die unseren Beratungsalltag prägen.

Daniel Estner im Dialog mit Dafne Joel, Hochschulratsmitglied und Prokuristin in der Luftfahrtbranche

Die Luft- und Raumfahrtindustrie steht vor großen Herausforderungen: gestörte Lieferketten, akuter Fachkräftemangel und eine sich anbahnende Konkurrenz aus China. Zwar haben Airbus und Boeing volle Auftragsbücher, doch kämpfen sie mit an vielen Stellen fehlenden und eigentlich dringend notwendigen Ressourcen, um die hohe Nachfrage zu bedienen. Gleichzeitig steigen die Anforderungen an Zulieferer, regulatorische Vorgaben werden strenger und neue Technologien wie alternative Antriebe und digitale Effizienzsteigerungen verändern die Branche womöglich irgendwann nachhaltig.

In der zweiten Ausgabe von roeren inside spricht Daniel Estner mit Dafne Joel. Sie ist Mitglied im Hochschulrat der Ravensburg-Weingarten University of Applied Sciences und Prokuristin in der Luftfahrtbranche. Gemeinsam analysieren sie die großen Herausforderungen des Sektors, beleuchten die Zukunft der Zulieferindustrie und diskutieren, welche Rolle Kooperationen, Nachhaltigkeitsstrategien und Innovationsdruck spielen.

Wie kann sich die Branche in einem zunehmend volatilen Markt behaupten? Und welche Lehren lassen sich aus anderen Industrien ziehen? Die Antworten gibt es in diesem Fachtalk.

Daniel Estner:
Schönen guten Tag, Frau Joel. Danke, dass Sie sich Zeit für das Gespräch rund um die Zukunft der Aerospace-Branche nehmen. Vielleicht starten wir einmal grundsätzlich mit der Frage danach, was Sie persönlich am meisten an der Luftfahrtindustrie fasziniert?

Dafne Joel:
Auch an Sie danke, dass ich hier sein darf. Mich reizt vor allem das hohe Anforderungsniveau. Ich bin Schweißfachingenieurin und arbeite seit vielen Jahren in der metallverarbeitenden Industrie. Gerade in Deutschland ist das mit sehr strengen Vorgaben verbunden, was ich spannend finde. Bislang war die Luftfahrt auch ein sehr vorhersagbarer Markt – das ändert sich aber gerade erheblich. Fliegen an sich übt natürlich eine enorme Faszination aus. Dazu kommt, dass die Branche sehr vernetzt ist. Man trifft immer wieder auf dieselben Menschen – oft sehr leidenschaftliche Luftfahrer, was ich als sehr angenehm empfinde.

Daniel Estner:
Ja, das geht mir genauso. Mich begeistert vor allem die Technik, die das Fliegen überhaupt erst möglich macht – und die letztlich nur durch funktionierende Lieferketten ermöglicht wird. Momentan gibt es hier massive Herausforderungen. Wie sehen Sie die aktuelle Lage?

Dafne Joel:
Die Luftfahrt stand in den letzten Jahren unter besonderem Druck. Die Pandemie hat den Personenverkehr stark beeinträchtigt, der Ukraine-Krieg und geopolitische Spannungen haben die Situation weiter verschärft. Hinzu kommen von den USA und China ausgehende Handelsrestriktionen. Diese Entwicklungen haben viele Unternehmen nachhaltig in Schwierigkeiten gebracht. Lieferketten sind teils komplett zusammengebrochen, etliche Zulieferer mussten Insolvenz anmelden. Das hat die Kapazitäten in der gesamten Branche reduziert. Parallel dazu hat sich auch das Problem des Fachkräftemangels zugespitzt. Viele hochqualifizierte Arbeitskräfte haben aufgrund der Krisen die Branche verlassen und sind nicht zurückgekehrt. Als die Branche dann wieder hochfuhr – allen voran Airbus – zeigte sich schnell, dass es nicht nur an Bauteilen, sondern auch an Personal fehlt. Ein funktionierendes Liefernetzwerk braucht eben beides.

Daniel Estner:
Man hört in den Medien oft davon, dass Airbus und Boeing mit diesen Herausforderungen kämpfen. Ihre Auftragsbücher sind voll, aber sie können ihre Flugzeuge aufgrund von Lieferkettenproblemen nicht fristgerecht ausliefern. Das Problem ist bereits länger bekannt, jedoch schaffen es die OEMs nicht, ihre Lieferketten zu stabilisieren bzw. mit alternativen Lieferanten aufzubauen. Liegt das auch an den hohen Anforderungen an Zulieferer?

Dafne Joel:
Definitiv trägt das einen Teil dazu bei. Das hohe Qualitätsniveau bedingt strenge Prüfverfahren, Zertifizierungen und Audits. Dazu kommen produkt- und kundenspezifische Zulassungen, die hohe Kosten verursachen. Nicht jedes Unternehmen hat die Voraussetzungen dafür oder will diesen Aufwand betreiben. Das führt dazu, dass der Kreis der Zulieferer überschaubar bleibt. Auf Messen und in der Lieferkette finden sich überwiegend dieselben Unternehmen und Personen. In diesem Kontext steht die Branche unter starkem Anpassungsdruck, um widerstandsfähiger zu werden.

Daniel Estner:
Ein weiteres Problem scheint mir, dass Zulieferer nicht langfristig planen können. Airbus hat seine Produktionsraten gerade wieder gesenkt – das bedeutet weniger Bestellungen für Lieferanten, die vorher bestens performt haben.

Dafne Joel:
Genau. Früher waren die Bedarfe sehr gut planbar, was den Zulieferermarkt attraktiv gemacht hat. Doch jetzt hängen die Produktionsraten nicht mehr nur von der Nachfrage ab, sondern von den schwächsten Gliedern der Lieferkette. Wenn einige Lieferanten nicht liefern können, müssen die großen Hersteller ihre Produktionspläne anpassen – und das trifft dann wiederum alle.

Daniel Estner:
In der Automobilbranche gibt es Partnerschaften, mit denen sich Lieferanten gegenseitig absichern. Gibt es solche Modelle auch in der Luftfahrt?

Dafne Joel:
Es gibt Netzwerke und Verbände, aber strategische Partnerschaften sind noch eher selten. Besonders in Deutschland tun sich viele Zulieferer schwer damit, enger zusammenzuarbeiten. In Frankreich sieht das anders aus. Dort wurden schneller Allianzen gebildet.

Daniel Estner:
Apropos Standards: Wie hat sich die Regulatorik in den letzten Jahren verändert?

Dafne Joel:
Die Anforderungen sind allgemein weiter angestiegen – und zwar deutlich. Das gilt nicht nur für die sicherheitsrelevanten und technischen Vorgaben, sondern auch für Umweltauflagen. Viele OEMs haben auf Basis neuester Verordnungen umfangreiche Anforderungskataloge erstellt, die Zulieferer zusätzlich erfüllen müssen. Das steht ein Stück weit im Widerspruch zum Ziel, neue attraktive Lieferanten zu gewinnen, ist aber die Realität.

Daniel Estner:
Wie geht die Branche mit dem Thema Nachhaltigkeit um?

Dafne Joel:
Es gibt hier viel Bewegung. Die Unternehmen suchen aktiv nach Wegen, um CO₂-Emissionen zu reduzieren. Allerdings sind viele Maßnahmen noch schwer messbar. In der Praxis konzentrieren sich viele auf Effizienzsteigerungen, weil dort kurzfristig das meiste Potenzial liegt. Auf den internationalen Luftfahrtmessen der letzten Jahre wurden Entwicklungen und Konzepte für alternative Antriebe mit Wasserstoff oder Elektrizität in den Vordergrund gestellt.  Nichtsdestotrotz nehme ich wahr, dass sich der Luftfahrtsektor weiterhin stark auf die bewährten Technologien stützt und nur in kleinen Schritten transformiert, anstatt radikal umzustellen.

Daniel Estner:
In der Automobilbranche übt der Transformationsdruck eine enorme Veränderung aus. Spürt man das in der Luftfahrt auch?

Dafne Joel:
Ja, zeitversetzt. Die Automobilbranche hat hier zeitlich betrachtet einige Jahre Vorsprung. In der Luftfahrt sind die Produktionsmengen zudem viel kleiner, was Transformation schwieriger macht. Viele Methoden aus der Autoindustrie lassen sich aber auf die Luftfahrt übertragen – gerade im Bereich Effizienzsteigerung. Und hierin herrscht bei Aerospace-Unternehmen starker Wettbewerb.

Daniel Estner:
Apropos Konkurrenz: Wie ernst müssen Airbus und Boeing die chinesische Comac nehmen?

Dafne Joel:
Aus meiner Warte müssen wir sie sehr ernst nehmen. Comac hat relativ betrachtet innerhalb kurzer Zeit Flugzeuge entwickelt, die mit älterer, aber solider Technik konkurrenzfähig sind. Sie produzieren in steigenden aber noch sehr niedrigen Raten – letztes Jahr waren es 10 Auslieferungen – das könnte schnell zunehmen. Ihr größter Vorteil ist die massive staatliche Unterstützung. Momentan fehlen ihnen noch eigene Hochleistungstriebwerke. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie auch hier aufholen. Die westlichen Hersteller sollten die Entwicklung genau im Blick behalten.

Daniel Estner:
Die Automobilbranche hat lange unterschätzt, wie stark asiatische Hersteller werden. Läuft die Luftfahrtindustrie Gefahr, denselben Fehler zu machen?

Dafne Joel:
Ich denke, man hat dazu gelernt. Chinesische Unternehmen agieren mit enormer Konsequenz und Beharrlichkeit. Es wäre naiv zu glauben, dass sie nicht auch in der Luftfahrt erfolgreich sein können. Aktuell sind sie noch auf westliche Technologien angewiesen. Es bleibt abzuwarten, wie sich das Kräfteverhältnis entwickelt.

Daniel Estner:
Fachkräfte sind ein entscheidender Faktor für die Zukunftsfähigkeit der Branche. Wie groß ist das Problem?

Dafne Joel:
Sehr groß. Wir brauchen dringend Nachwuchs und müssen Ausbildung und Arbeitsmethoden anpassen. Künstliche Intelligenz kann in manchen Bereichen helfen, aber nicht alle Lücken schließen. Gleichzeitig braucht es mehr Kooperationen zwischen Hochschulen und Industrie, um Talente frühzeitig zu fördern.

Daniel Estner:
Zum Abschluss: Welche zentralen Entwicklungen werden die Branche in den nächsten zehn Jahren am stärksten prägen?

Dafne Joel:
Nachhaltigkeit bleibt ein zentrales Thema, insbesondere Effizienzsteigerungen und alternative Antriebe und Kraftstoffe. Digitalisierung und Automatisierung werden ebenfalls eine Schlüsselrolle spielen, sowohl in der Produktion, Instandhaltung als auch in den Flugzeugen selbst. Die kommenden Jahre werden spannend – und voller Herausforderungen.

Daniel Estner:
Vielen Dank für den spannenden Austausch, Frau Joel! Ich bin gespannt, wie sich die Branche in den kommenden Jahren weiterentwickeln wird. Sie steht offensichtlich vor einer entscheidenden Dekade: Resilienz in den Lieferketten, der technologische Fortschritt und möglicherweise auch das Thema Nachhaltigkeit werden bestimmen, wer langfristig wettbewerbsfähig bleibt. Ich bin überzeugt davon, dass es deswegen umso mehr auf starke Partnerschaften, mutige Innovationen und strategische Anpassungsfähigkeit ankommen wird.

Über unseren Gast

Hochschulratsmitglied und Prokuristin in der Luftfahrtbranche Dafne Joel

ist eine erfahrene Führungspersönlichkeit der Luft- und Raumfahrtindustrie. Als Mitglied des Hochschulrats der Ravensburg-Weingarten University of Applied Sciences bringt sie ihre umfassende Expertise in die akademische und industrielle Weiterentwicklung der Branche ein. Mit einem Diplom in Bauingenieurwesen und Umwelttechnik von der Technischen Universität Hamburg sowie als International Welding Engineer (Schweißfachingenieurin) verfügt sie über fundiertes technisches Wissen in Materialtechnologien, Produktionsstandards und Zertifizierungsprozessen. Als Mitglied der Geschäftsleitung von Zeppelin Aviation & Industrial Service GmbH ist sie stets über aktuelle Markttrends und Entwicklungen informiert. Dafne Joel engagiert sich aktiv in Normungsgremien und Facharbeitskreisen, unter anderem im DVS Prüferausschuss für Schweißen in der Luft- und Raumfahrt. Zudem ist sie Mentorin im Cross Company Mentoring Programm von Spitzenfrauen BW, wo sie ihre beruflichen und persönlichen Erfahrungen an weibliche Nachwuchsführungskräfte weitergibt und diese bei ihrer beruflichen Entwicklung unterstützt.

Unser roeren-Experte im Bereich Aerospace

Daniel Estner, M. Sc.

ist Berater bei roeren mit Fokus auf Technologiemanagement und Innovationsstrategien in der Luft- und Raumfahrtindustrie. Mit seiner akademischen Ausbildung in Maschinenbau und Luft- und Raumfahrttechnik bringt er eine technisch-strategische Perspektive in seine Projekte ein. Sein Schwerpunkt liegt in der Aerospace-Branche auf den Bereichen Lieferkettenmanagement, Produktionsinnovationen und Programmmanagement. Dabei begleitet er Unternehmen bei der Entwicklung zirkulärer Wertschöpfungsketten und der Implementierung effizienter Produktionssysteme. Durch seine analytische Herangehensweise und gute Branchenkenntnis trägt Daniel Estner dazu bei, zukunftsfähige Technologien in der Luft- und Raumfahrtbranche voranzutreiben und nachhaltige Produktions- und Geschäftsmodelle für die Industrie zu entwickeln.

Bildrechte

Ähnliche Artikel

Wir freuen uns, wenn
Sie mit uns in Kontakt treten.